„Junker und Herrenmenschen?“

Vogelsang am Montag, den 9. Dezember 2019.

Die beiden Geschichtsgrundkurse der Q2 von Herrn Muschellik und Frau Schaaf sind auf Exkursion in einer der ehemals drei „Ordensburgen“ der Nationalsozialisten. Junge Männer sollten dort als „Ordensjunker“ zur zukünftigen Führungselite der NSDAP ausgebildet werden.

Schon bei der Ankunft fällt ein großer Turm ins Auge, ähnlich dem Bergfried einer mittelalterlichen Burg. Die Analogie zu dem Zeitalter ist nicht zufällig: Als edle und tapfere Herren sollten die Männer später als Parteifunktionäre leitende Positionen in der „Volksgemeinschaft“ einnehmen. Ins Auge fallen direkt weitere architektonische Besonderheiten: Die stufenförmige Anordnung von Versammlungsplätzen, damit die Führungspersönlichkeiten oben stehen konnten und die „Ordensjunker“ zu ihnen hinaufschauen mussten, wie der Guide erklärt, und zahlreiche, oft in Stein gemeißelte Darstellungen muskulöser Männer, welche den Junkern das Idealbild des „arischen Herrenmenschen“ allgegenwärtig machen sollten.

Im Unterricht in Vogelsang wurde hauptsächlich Rassenlehre doziert, den Rest des Tages wurde Sport getrieben, wodurch die Männer äußerlich dem nationalsozialistischen „Herrenmenschen“ näherkommen sollten. Fehlende Privatsphäre trug ihren Teil dazu bei, Kritik gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ein Großteil der ausgewählten Männer zeichnete sich ohnehin von vornherein nicht durch eigenständiges Denken aus. Ein Nachweis von Zeugnissen wurde von ihnen nicht gefordert, Intellekt war kein Auswahlkriterium. Die Nazis brauchten schließlich keine freigeistigen Denker in den Führungspositionen, sie brauchten linientreue, starke Männer, die problemlos Befehle ausführten und erteilten. Sie durften keine Sekunde lang an der Richtigkeit der „Sache“ zweifeln.

Die NSDAP stilisierte die „Märtyrer“ des Hitler-Putsches von 1923 zu Heiligen. Die Dimensionen dessen werden beim Betreten des „Bergfrieds“, in dem auch „braune“ Hochzeiten gefeiert wurden, deutlich. Hier hingen früher die Namen eben dieser „Märtyrer“ um die Statue eines „Herrenmenschen“ herum, zu dessen Füßen in großen Buchstaben „HIER“ geschrieben stand. Auf dem Boden war ein riesiges Hakenkreuz abgebildet, welches heute von Holzplatten verdeckt ist. In einer Zeremonie rief regelmäßig einer der Ausbilder von Vogelsang diese Namen in einen großen Vorraum, in welchem sich alle Junker versammelt hatten und laut mit „HIER!“ antworteten, als Symbol dafür, dass die „Märtyrer“ mitten unter ihnen seien.

Die an diesem regnerischen Dezembertag in dem eindrucksvollen Turm mit seiner hohen Decke versammelten Schülerinnen und Schüler hören mit einer gewissen Beklemmung die Erläuterungen des Guide Jean-Marie Malaise. Die Beklemmung wächst, als er brüllend die Zeremonie nachahmt. Bei dem Guide handelt es sich um einen pensionierten Offizier der belgischen Armee, der während seiner Arbeit für die NATO für das potentielle Abfeuern von Atomwaffen verantwortlich war.

Jean-Marie Malaise sagt von sich selbst: „Wenn der Befehl gekommen wäre, hätte ich die Atombomben auf deutsche Städte abgefeuert.“ Im Gegensatz zu den Junkern, die in Vogelsang zu Marionetten und Verfechtern der nationalsozialistischen Ideologie geformt wurden, habe er aber nach seiner Dienstzeit von einem Moment auf den anderen realisiert, was seine Rolle im Militär eigentlich bedeutete. Die Selbsterkenntnis, dass er bei einem entsprechenden Befehl den Tod zahlloser Unschuldiger mitzuverantworten gehabt hätte, motiviert ihn, im Ruhestand als überzeugter Pazifist in Vogelsang Aufklärungsarbeit zu leisten. Für jeden Menschen gilt es „Nein!“ zu sagen zu verbrecherischen Ideologien, aber auch dazu, im Namen (vermeintlich) guter Ziele aus Gehorsam ohne Einsicht schreckliche Dinge zu tun.

Amelie Blum, Schülerin der Q2