Lorenz S. Beckhardt am Beethoven-Gymnasium

Der Jude mit dem Hakenkreuz

Über die schicksalhafte Geschichte seiner Familie veröffentlichte Lorenz Beckhardt 2014 das Buch „Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie“.

Mit diesem Buch im Gepäck macht sich der ehemalige Schüler des Beethoven-Gymnasiums, der vor 40 Jahren bei uns Abitur gemacht hat, am 09. November 2021 gemeinsam mit seiner Mutter auf den Weg zu unserer Schule. In der Aula haben sich zahlreiche interessierte Schülerinnen und Schüler aus der Q2 versammelt. Wegen Corona kann der Vortrag leider nur von einer Jahrgangsstufe besucht werden.
Ruhe kehrt in die Aula ein, als Lorenz Beckhardt mit kräftiger, freundlicher Stimme seinen Vortrag mit der Biografie seines Großvaters, Fritz Beckhardt, beginnt. 

Fritz kämpfte im Ersten Weltkrieg über 2 Jahre als einer der ausgezeichnetsten Kampfpiloten der neu geschaffenen deutschen Luftwaffe, zeitweise gemeinsam in einer Fliegerstaffel mit Hermann Göring. Eine Bekanntschaft, die ihm später wohl das Leben gerettet hat.
Wie ein Foto zeigt, schmückte Fritz sein Flugzeug mit dem Hakenkreuz. 
Das Symbol, unter dem er später während der Nazi-Herrschaft verfolgt werden sollte, wurde im 1. Weltkrieg als ein Zeichen nationaler Gesinnung verstanden.

Nach dem Ersten Weltkrieg heiratete der gelernte Textilkaufmann Fritz Emma Neumann, die Tochter eines Gemischtwarenhändlers, und übernahm das Geschäft. 
Das Geschäft in Sonnenberg bei Wiesbaden florierte unter seiner Leitung. Fritz bekam mit Emma zwei Kinder: Kurt, den Vater von Lorenz Beckhardt, und Hilde. 

Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann ab dem 1.April 1933 ein Boykott gegen alle jüdischen Geschäfte. Ein Jahr später musste Fritz Beckhardt das traditionsreiche Geschäft schließen.

An dieser Stelle beginnt Lorenz Beckhardt aus seinem Buch vorzulesen. Er berichtet von Massenabschiebungen der Juden mit ursprünglich polnischer Staatsbürgerschaft aus dem Deutschen Reich nach Polen, die aber nicht einreisen durften und im deutsch-polnischen Grenzgebiet zum Teil verhungerten. Und wie daraufhin auch in Kurts Klasse Mitschüler für immer fehlten. Ein eindrücklicher Moment, der uns als Schüler/innen besonders nahe geht.

Die Hintergründe der Pogromnacht und ihre Wirkung auf den neunjährigen Kurt Beckhardt, der fassungslos die brennende Sonnenberger Synagoge betrachtete, werden ausgeführt. Kurt hatte Angst, Tränen liefen ihm über die Wangen. Die nichtjüdische Bevölkerung Sonnenbergs stand den Ausschreitungen bedrückt bis gleichgültig gegenüber. Niemand schritt ein. 

Kurz darauf wehrte sich der Vater von Fritz, Abraham Beckhardt, gegen das Eindringen der SS in sein Haus und wurde als 80-jähriger Mann von den SS-Einheiten zusammengeschlagen.
Er erlag seinen Verletzungen im Krankenhaus. Einige Wochen später starb seine Frau Franziska vor Kummer um ihren Verlust.

Infolge der Nürnberger Gesetze von 1935 waren Liebesbeziehungen zwischen Juden und Nichtjuden verboten. Fritz setzte sich über das Verbot hinweg und führte seine Affäre mit dem Hausmädchen Lina Lahr fort. Er wurde angezeigt. Die Gestapo verhaftete ihn und brachte ihn zunächst ins Gefängnis, woraufhin er als „Rassenschänder“ verurteilt und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurde.

Seine Frau Emma ahnte die Gefahr, die auch dem Rest der Familie in Deutschland drohte. Sie erfuhr von den „Kindertransporten“ für deutsch-jüdische Kinder nach England. 
In höchster Not konnten Kurt und Hilde über die Kindertransporte nach England gerettet werden. Während Hilde eine reiche Pflegefamilie fand, die sie aufnahm, kam Kurt in ein Jugendheim bei Sheffield. Weil er sich dort frei entfalten konnte, bezeichnete er diese Zeit rückblickend als die beste seines Lebens.

Einem befreundeten Rechtsanwalt gelang es, Hermann Göring über die Verhaftung seines alten Kameraden Fritz zu informieren. Tatsächlich konnte er Göring dazu bewegen, sich für Fritz einzusetzen: 1940 wurde Fritz freigelassen.
Mit großem Mut und viel Glück konnten Fritz und Emma 1941 über das neutrale Portugal zu ihren Kindern nach England fliehen. 

Dann zeigt uns Herr Beckhardt Bilder seiner Familie. Einige Familienmitglieder haben die Nazi-Herrschaft nicht überlebt: Erschlagen, ermordet, vergast. Es sind Bilder liebevoller, vertraut wirkender Menschen, die sich hinter der abstrakten Zahl „sechs Millionen“ verbergen.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs drängte Fritz auf eine Rückkehr nach Deutschland.
Hilde blieb in England. Kurt ging 1950 widerwillig mit seiner Familie zurück nach Deutschland. Später soll er dies als „den größten Fehler seines Lebens“ bezeichnet haben.

Denn auch nach dem Ende der NS-Herrschaft hielt der Antisemitismus, dem die Familie Beckhardt tagtäglich ausgesetzt war, an. Anpöbelungen und Beleidigungen gehörten zum Alltag der Familie. Ein erschütternder Moment für die Zuhörerschaft, glaubten viele doch bisher noch an das Bild eines reuigen und Versöhnung suchenden Deutschlands der Nachkriegszeit. Die „Wiedergutmachung“ und Rückführung des enteigneten Eigentums verliefen schleppend. 

Fritz Beckhardt eröffnete das Gemischtwarengeschäft Neumann neu. Doch kaum einer aus dem Dorf mochte, ob aus Scham oder Antisemitismus, bei ihm einkaufen. 1962 starb Fritz, zwei Monate nach der Geburt seines Enkels Lorenz Beckhardt. 

Nach ausführlicher Klärung aller Fragen der Q2 wird Herr Beckhardt mit einem großen Applaus und einer Flasche des schuleigenen Weins verabschiedet. Geblieben ist ein nachhaltiger Eindruck: Das Wissen um die Fragilität unserer Gesellschaft. Die Erfahrung, dass man unsere Demokratie verteidigen muss. Wohl kaum eine andere Familiengeschichte reflektiert in einem solchen Maße die Entwicklung des Antisemitismus im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Für Einsichten und neue Erkenntnisse zu einem der bedeutendsten Kapitel der deutschen Geschichte mit zahlreichen Bezügen zur Gegenwart, auf die der Referent aufmerksam machte, danken wir Lorenz Beckhardt äußerst herzlich.

Von Christian Hovestadt und Philipp Kuczaty (Schüler der Q2)

 

Herr Eckhardt (li.), seine Mutter, Herr Schüller (Stellvertretender Schulleiter)